Sprechhaltung des Lyrischen Ichs – was ist damit gemeint?

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Sprechhaltung des Lyrischen Ichs

Definition: Das lyrische Ich und dessen Sprechhaltung

Zunächst ist zu klären, was das lyrische Ich ist. Beim lyrischen Ich handelt es sich um einen literaturwissenschaftlichen Begriff, der eingeführt wurde, um den Sprecher eines Gedichts zu bezeichnen. Wichtig ist dieser Begriff, weil er deutlich macht, dass der Sprecher eines Gedichts nicht mit dem Autor verwechselt werden darf, sondern rein fiktiver Natur ist.

Das lyrische Ich taucht per definitionem ausschließlich in der Lyrik auf. Dabei ist die Ich-Form des lyrischen Ichs eine Möglichkeit, wie es erscheint, aber keine Bedingung. Das lyrische Ich zeigt sich nicht zwangsläufig eindeutig. Es kann auch in Form einer neutralen Stimme auftreten. Zeigt es sich in der eindeutigen Ich-Form, spricht man von einem expliziten lyrischen Ich.

Die Sprechhaltung des lyrischen Ichs charakterisiert, wie sich das lyrische Ich gegenüber dem Leser ausdrückt, wie es im Gedicht auftritt und welche Emotionen es zum Ausdruck bringt. Die Sprechhaltung des lyrischen Ich könnte auch umschrieben werden als die gewählte Tonalität und die Ausdrucksweise des lyrischen Ichs.

Begriffsgeschichte des lyrischen Ichs

Die ersten, die die traditionelle biographische Lesart mit der Gleichsetzung des Sprechers eines Gedichts mit dem Autor in Frage stellten, waren die russischen Formalisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieser Ansatz besagt, dass die Gleichsetzung des Sprechers eines Gedichts mit dem Autor ein Resultat des Geniekults mit der Verabsolutierung des quasi-prophetischen Autors der romantischen Literatur ist und infolgedessen nicht unumstößlich ist.

Der Begriff des lyrischen Ich wurde allerdings erstmals erst von der Essayistin, Dichterin und Publizistin Margarete Susman in ihrem Grundlagewerk „Das Wesen der modernen deutschen Lyrik“ 1910 eingeführt. Nachdem Margarete Susman sich mit dem lyrischen Ich systematisch auseinandersetzte, griff das Konzept der österreichische Literaturwissenschaftler Otto Walzel in den 1920er-Jahren auf. Er unterscheidet differenzierter zwischen Gedichten mit einem Du, Er oder Ich.

Die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger hingegen verneinte in den 1950er-Jahren, dass es eine Trennung zwischen Autor und fiktivem Sprecher gibt und definierte, dass es sich beim lyrischen Ich um situationsspezifische Erlebnisaspekte des Autors handelt. Sie setzt somit das im Gedicht Erlebte mit dem Autor gleich in der Tradition der romantischen Lyrik. Dem Leser hingegen fällt demzufolge die Rolle zu, die Erlebnisse des lyrischen Ich als situationsspezifische und stimmungsabhängige Auseinandersetzung zwischen Objekt und Subjekt nachzuerleben und nachzuempfinden.

Immer wieder wurde in der Literaturtheorie diskutiert, ob man den Begriff des lyrischen Ichs nicht ganz fallen lassen sollte und es nicht angebracht wäre, eine neue, eindeutigere Begrifflichkeit einzuführen. Insofern ist Diskussion um das lyrische Ich immer noch nicht ganz abgeschlossen.

Die Sprechhaltung des lyrischen Ichs ist hingegen ein Ausdruck, der in der Literaturwissenschaft nicht häufig Verwendung findet, sondern meistens anders umschrieben wird: Tonfall, Tonalität, Ausdruck, Ausdrucksweise, Sprechstil, Redestil etc. Im Gegensatz zum „lyrischen Ich“ ist dies kein feststehender Begriff.

Das lyrische Ich in der Literaturtheorie

Inzwischen hat man sich in der Literaturwissenschaft geeinigt, dass die biographische Lesart eines Gedichts nur eine der möglichen Lesarten ist. Der Autor gilt zwar als Urheber, ist jedoch keinesfalls automatisch die Instanz, die in der Lyrik spricht. Zwar ist es möglich, im Einzelfall biographische Einflüsse herauszuarbeiten; generell ist der biographische Ansatz jedoch wenig zielführend.

Eine literaturwissenschaftliche Analyse konzentriert sich darauf, wie das lyrische Ich sich im Text verhält und wie es dem Leser das Gedicht zeigt. Die Sprechhaltung des lyrischen Ich als dessen Tonalität und Ausdrucksform ist demzufolge neben der Charakterisierung des lyrischen Ichs ein Punkt, der wesentlich mehr Aussagewert besitzt als biographische Spekulationen.

Gedichtanalyse

Das lyrische Ich ist eine zentrale Instanz, die bei jeder Gedichtanalyse zumindest erwähnt werden muss. Zunächst ist bei einer Analyse zu klären: Gibt es überhaupt ein Ich, das sich artikuliert und dem Leser das Gedicht zeigt? In welcher Form tritt es auf? In der Ich-Form oder als neutraler Sprecher? Welche Sprechhaltung nimmt es ein, welche Ausdrucksweise benutzt es, in welcher Stimmung befindet sich das lyrische Ich?

Ferner ist zu klären: Gibt es ein Gegenüber, dass das lyrische Ich anspricht? Spricht es über eine dritte Person? Welche Gedanken und Emotionen gibt das lyrische Ich zum Ausdruck? Wie bringt es sie zum Ausdruck? Beschreibt es Erlebnisse oder Beobachtungen? Zieht es Schlussfolgerungen aus seinen Erlebnissen? Welche Aussagen können demzufolge über den Text getroffen werden?

Die Analyse des lyrischen Ichs und dessen Sprechhaltung sind im Rahmen jeder Gedichtanalyse Elemente, die zentrale Aussagen über ein Gedicht erlauben.

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