Beispiel-Gedichtanalyse des Gedichtes „Winterdämmung“

1
Winterdämmung

Um den Aufbau und die Gliederung einer Interpretation zu lernen, zeigen wir euch anhand des Gedichts „Winterdämmerung“ von Georg Trakl, was ihr alles zu beachten habt. Besonders wichtig ist eine sinnvolle Einteilung des Textes in Einleitung, Hauptteil und Schluss. Die Einleitung sagt dabei etwas über den Autor, den Titel des Gedichts und das Datum der Veröffentlichung aus. Der Hauptteil beschäftigt sich dann mit einer Analyse der Bedeutung der Wörter (Semantik) und der Form des Gedichts. Im Schluss fasst ihr die Ergebnisse eurer Analyse zusammen.

Wichtig! In den Schluss kommen keine neuen Argumente oder Ergebnisse! Die Interpretation schreibt man im Präsens. Um euren Text nachher einfacher lesen zu können, unterteilt ihn in passende Sinnabschnitte. Am besten könnt ihr vor dem Anfertigen des Textes kleinere Notizen auf einem Schmierblatt festhalten um euch eine grobe Orientierung zu geben. Damit habt ihr einen roten Faden für eure Vorgehensweise und könnt direkt gut starten.

Interpretationsbeispiel

Das Gedicht „Winterdämmung“ von Georg Trakl, 1913 veröffentlicht, handelt von einer Beschreibung der Landschaft und des Wetters. Verschiedene Gebäude erwecken den Eindruck einer Stadt. Das Gedicht wirkt durch die Wortwahl recht düster und bedrohlich, der Eindruck muss im Folgenden genauer untersucht werden. Der Hauptteil soll eine Deutung und eine zeitliche Einordnung beinhalten und im Schluss die Ergebnisse noch einmal zusammenfassen.

Das Gedicht beginnt mit einer Beschreibung der Wetter- und Umgebungsverhältnisse. Es herrscht Dunkelheit und Krähen fliegen über Parks und landen in dem Ort. Darauf folgen die Umschreibungen von Gebäuden, wie „Kirche“, „Krankenhaus“, „Theater“, „Brücken“ und von einem Ausblick auf einen „Kanal“.

Die Gebäude lassen darauf schließen, dass es sich um eine Stadt handeln muss, da nur größere Orte mit einem Krankenhaus, einer Kirche und einem Theater ausgestattet sind. Die formale Einteilung des Gedichtes trennt inhaltlich nicht nach Strophen, sondern beschreibt in den ersten beiden Versen die Dunkelheit und den Sturm.

Danach folgen vom dritten bis zum zehnten Vers, die in der Luft kreisenden Krähen, bis die letzte Beschreibung der Stadt, das Gedicht abschließt. Das Gedicht richtet sich an eine gebildete Leserschaft und soll vor den Folgen der Industrialisierung warnen.

Das es sich nicht um ein natürliches Wetterphänomen handelt, beschreibt der Vers „Schwarze Wolken auf Metall“. Es wird deutlich, dass die Industrie durch die schmutzigen Abgase für die Dunkelheit in der Stadt verantwortlich ist. Des weiteren wird im Gedicht vom „Erfrieren“ geredet. Damit ist möglicherweise das emotionslose und kalte Leben der Arbeiter gemeint oder die erdrückenden Arbeitsbedingungen.

Einen Ausweg bietet allein der „Theatersaal“, der mit emotionalen Gefühlen und mit Flüchten in andere Welten das Leben erhellt. Das Gedicht handelt also von einem Kampf zwischen Gut und Böse, Licht gegen die Dunkelheit, Gott gegen Satan. Auch die Kirche bietet den Menschen keinen Ausweg an, sodass nur die darstellenden Künste eine Flucht aus dem Alltag erlauben.

Zudem verweisen die kreisenden Krähen und die blühende Industrie auf die ersten Anzeichen eines Krieges, der das Leben der Bevölkerung erschwert und Hoffnung raubt. „Rote Stürme“ als Metapher verweisen auf das Wettrüsten mit Russland. Möglicherweise auch auf Kämpfe mit der roten Armee.

Die Krähen stehen dabei für den Tod, da sie wie Geier über der Stadt kreisen und Vorboten des Todes sind, da sie immer vor Zerstörung auftauchen und sich von Totem ernähren. Der Titel des Gedichts beschreibt die Doppeldeutigkeit der Winterdämmerung. Die Dämmerung kann den Anfang oder den Ende des Tages bedeuten.

Der Winter steht für das Ende des Jahres und es ist im Winter schneller dunkel und kalt. Schon im Titel nimmt das Gedicht also deutlich Stellung über den Inhalt des Gedichts.

Durch verschiedene rhetorische Mittel wie Ellipsen und Metaphern („Schwarze Wolken von Metall“) sorgen für eine eigene Interpretationsmöglichkeit seitens des Lesers. Neologismen, syntaktische Missklänge („Kreuz wehen“) und eine außergewöhnliche Kombination von Begriffen erschweren das Lesen des Gedichts.

Die daraus entstehende Orientierungslosigkeit sowie die bedrohliche Beschreibung des Himmels erzeugen ein bedrückendes Gefühl. Trotzdem wird der Leser gezielt und bewusst auf die Aussagen des Gedichts gelenkt.

Besonders ist, dass es in dem Gedicht kein lyrisches Ich gibt. In dem Gedicht handelt es sich um einen neutralen außenstehenden Erzähler, der sich nicht durch Appelle oder Gespräche an den Leser wendet, ihn aber durch die Wortbedeutungen lenkt. Daher liegt es nahe, dass das Gedicht in die expressionistische Zeitepoche einzuordnen ist. Ein charakteristisches Merkmal ist unter anderem das eingesetzte Kunstmotiv und die Orientierungslosigkeit geschaffen durch Ellipsen und Neologismen.

Das Gedicht beinhaltet vier Strophen mit jeweils vier Versen und hat ein umarmendes Reimschema. Damit steht es im Gegensatz zu anderen expressionistischen Gedichten, die meisten in Sonnettform verfasst werden.

Durch den Ausbruch aus syntaktischen und semantischen Regeln, verweist das Gedicht deutliche auf eine protestierende Haltung gegenüber der Industrialisierung und den Kriegsvorbereitungen. Die Form und das Schema des Gedichts verdeutlichen das eintönige und trostlose Leben geregelt durch Zwänge.

Die bewusst gesetzten Wortfehler und die Kreativität der Kunst erlauben eine Flucht aus dem geregeltem Leben und bieten eine Rettung vor dem nahenden Krieg.

Alles in allem bestätigt sich der düstere erste Eindruck des Gedichts, da es um die Auswirkungen der Industrie auf das alltägliche Leben geht. Die Menschen werden durch die Arbeit gelenkt, die durch das Wettrüsten in einem Krieg zu enden droht.

Der Mensch findet keine Hoffnung oder Rettung in der Religion und allein die darstellenden Künste lassen die Probleme und die Sorgen der Bevölkerung für einen Augenblick vergessen. Die Aussage des Gedichts warnt vor Gefühls- und Orientierungslosigkeit als Folgen von der Industrialisierung, aber auch vor dem Tod durch einen nahenden Krieg.

War dieser Artikel hilfreich?

Ja
Nein
Vielen Dank für dein Feedback!

1 Kommentar

  1. Es gibt 1913 keine Rote Armee. Es gibt auch keine Kämpfe.
    Der Erste Weltkrieg beginnt 1914, die Russische Revolution im Oktober (November) 1917.

    Es ist, wenn ich alle Interpretationen zu diesem Gedicht im Netz lese, offenbar eine Art „deutscher Reflex“, die Wortkombination „roter Sturm“ gleich mit „Rote Armee/UdSSR/Krieg“ in Verbindung zu setzen und dabei das Erscheinungsdatum des Gedichtes vollkommen auszublenden.

    Ich kann mich auch nicht ganz des Eindrucks erwecken, dass im Netz alle von allen „klauen“, ohne dabei der nötigen kritischen Reflexion Raum zu geben.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein